Der Text von Praxedis Kaspar ist am 2. Dez. 2020 als Leserbrief in den Schaffhauser Nachrichten und am 3. Dez. in der Schaffhauser AZ erschienen. Ein notwendiger Text. Ein berührender Text. Ein Text, der einen wütend machen – oder resignieren lassen – könnte. Er zeigt ein Problem auf, das eigentlich allen mehr Angst machen sollte als Corona selber: die Gleichgültigkeit, mit der wir (gewiss nicht alle, vielleicht nicht einmal die Mehrheit, wohl aber die nach einer zweck- und nutzenorientierten Ethik entscheidenden nationalen und kantonalen Regierungen) mit dem schweren Atmen und leisen Sterben der Alten umgehen.
Es ist still in Bern. Der Bundesrat erscheint uns nur noch selten als ganze Korona, er schickt seine Verwaltungsleute vor, die uns in ihrem Beamtendeutsch das Sowohl und das Auch erklären: Dass man schliesslich auch leben müsse und eben die Wirtschaft. Der Bundesrat scheint nicht zu verstehen, dass man mit einer kranken Gesellschaft keine gesunde Wirtschaft machen kann. Er mag seine Fehler vom letzten Herbst nicht eingestehen und seine gegenwärtige Ratlosigkeit schon gar nicht. Aus den Landesmüttern und Landesvätern der ersten Welle sind verzagte Zauderer geworden. Die täglichen Todeszahlen muss die Verwaltung verkünden.
Es ist still im Schaffhauser Regierungsgebäude, wo dicke Teppiche die Misstöne aus der Welt der Bürger verschlucken. Auch unsere Regierung erscheint uns nie als ganze Korona. Nie ist sie vor uns hingetreten und hat gesagt, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nun liegt die Verantwortung bei uns, wir wollen sie wahrnehmen. Es wird schwierig, aber wir haben ein Konzept, bitte arbeitet mit, wir bestehen diese Sache gemeinsam. Stattdessen ist das kleine Schaffhausen ein Kanton mit vielen Todesfällen in den Heimen und immer noch hohen Ansteckungszahlen. Unserer Regierung fällt nichts dazu ein, sie sagt nichts, sie entscheidet nichts und der Gesundheitsdirektor gefällt sich in Publikumsbeschimpfung. Man sucht im Rathaus Menschen mit Format.
Es ist still in meiner Partei mit dem schönen Slogan «Für alle statt für wenige», die ich seit 50 Jahren wähle und mitfinanziere. Keine Fragen werden laut, keine Kritik am Genossen Gesundheitsdirektor, zumindest keine hörbare Kritik. Noch nicht einmal ein Nachfragen in den Parlamenten, was denn nun geschehen solle mit den Heimen, wenn mehr Putzlumpen nicht reichen sollten und das stille Sterben weitergeht.
Es ist still im Altersheim, wo unsere 90jährige Freundin lebt. Sie ist nicht eingesperrt, beileibe nicht, sie hat ihre Freiheit. Aber es kommt trotzdem kein Besuch. Wir haben Angst, das Virus aus der unsicheren Stadt und dem verhusteten Bus ins Heim zu tragen.
Es ist still bei den Sterbenden, die, natürlich, wie wir alle und wie auch der Bundesrat und der Regierungsrat, sterben müssen. Aber wie wir alle würden auch sie lieber sterben ohne Atemnot. Sie möchten, dass ihre Liebsten am Bett sitzen und ihre Hand halten und sie möchten nicht das Gefühl haben, der geschäftigen Welt da draussen zur Last zu fallen. Manche betreiben «Selbsttriage», wie man das jetzt nennt, derweil die Nation Ski fährt und in der Beiz sitzt.
Es gibt doch diese alten Geschichten von Nomanden, die ihre Kranken und Schwachen zurückgelassen haben, wenn sie auf dem langen Marsch nicht mehr mithalten konnten und wenn das Essen nicht für alle reichte. Wir waren einst stolz darauf, dass unsere Gesellschaften diese Art des «survival of the fittest» überwunden hatten. Jahrzehntelang haben wir uns an unserem Umgang mit den schwächeren Mitmenschen gemessen, es war unser edelstes Ziel, sie mitzunehmen auf unserem Weg. In diesen Tagen in meinem Kämmerlein beobachte ich eine Entwicklung, die mir Angst macht, mehr noch als Corona: dass wir hinnehmen, was im Grunde niemand möchte. Dass es dann doch geschieht, weil wir es für unabänderlich gehalten haben – die grosse Triage, die in der Stille unserer Gedanken beginnt.
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