Sophie Calle: «Das Adressbuch»
1983 fand Sophie Calle in Paris ein Adressbuch, kopierte es und schickte es seinem Besitzer anonym zurück. In der Folge rief sie die Personen aus dem Adressbuch an, vereinbarte mit jenen, die damit einverstanden waren, ein Treffen, um von ihnen mehr über den Besitzer des Adressbuchs zu erfahren. Sie wollte den Menschen, der ihr bisher nie begegnet war, über die Erzählungen und Anekdoten seiner Adressbuch-Bekannten kennenlernen.
Über diese Treffen schrieb Sophie Calle Kolumnen, die in der Zeitung «Libération» gedruckt wurden (Titel der Serie: «L’Homme au carnet»). Pierre D., der Besitzer des Adressbuchs, war offenbar ein interessanter Mensch. Seine Adressbuch-Bekannten beschrieben ihn als freundlich, eher schüchtern, alleinlebend, mit vielen originellen Ideen, von denen aber nur wenige umgesetzt wurden. Er schrieb Drehbücher, drückte sich etwas manieriert aus, mochte Filme von Lubitsch und Jerry Lewis und interessierte sich für Ägypten. Nicht verwunderlich wurde Pierre D. mit jedem Gespräch und jedem Detail, das die Bekannten über ihn enthüllten, ebenso greifbarer wie wolkiger. Insgesamt entstand das Bild eines durchaus interessanten Menschen. Das Porträt brach nach der letzten Kolumne abrupt ab.
Zum Glück für Sophie Calle hielt sich Pierre D. zur fraglichen Zeit in Norwegen auf und bekam nichts von den Kolumnen mit. Er erfuhr erst nach seiner Rückkehr von den 29 Texten über ihn. Leider erfüllte sich Sophie Hoffnung auf sein Verständnis, sogar irgendeine Art «Happy end», nicht. Er fand die Sache gar nicht lustig, fühlte sich vielmehr sehr verletzt, obschon weder seine Adresse noch andere Details veröffentlicht wurden. Pierre D.s Rache: Er fand eine Nacktaufnahme der Autorin und liess sie veröffentlichen.
Fazit: Natürlich sah Sophie Calle das Heikle an diesem sozial-literarischen (oder vielleicht doch nur voyeuristischen?) Experiment, bei dem es um Indiskretion geht und um die Frage, wie weit man ohne Erlaubnis in intime Bereiche eines andern eindringen darf und wo die Schmerzgrenze ist. Pierre D. (in Wirklichkeit Pierre Baudry) verfügte, dass das Werk zu seinen Lebzeiten nicht publiziert werden durfte. Er verstarb 2005. Seither darf «Das Adressbuch» verlegt werden (auf Deutsch 2019 bei Suhrkamp erschienen (ISBN 978-3-518-22510-3)).
Am Ende die Fragen: Warum fand Pierre D. das Projekt nicht spannend? Oder wenigstens originell? Es hätte seine eigene Idee sein können. Warum wollte er beispielsweise keinen Film daraus machen, wie aus vielen seiner originellen Einfälle? Calles Experiment wirft aber auch andere Fragen auf: Was interessiert uns an anderen? Und was verbirgt sich hinter unserem Interesse? Darf man ein wahres Leben anonym zwar, aber ungefragt für ein literarisches Abenteuer benutzen? Ist das Ergebnis überhaupt Kunst? Und ist es wichtig, ob das literarische Ergebnis mit der Wirklichkeit übereinstimmt?
Sophie Calle, geboren 1953 ist eine international durchaus renommierte Autorin und Fotografin mit einem Hang zum Tabubruch. Einige halten sie für eine Vertreterin der Konzeptkunst. Sie lebt in Malakoff bei Paris.
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