Die meisten Virologen und Epidemiologen liegen mit ihren Meinungen gar nicht so weit auseinander. Salathé, Kekulé, Drosten, Streeck & Co – da gibt’s Animositäten, Konkurrenz (immerhin winkt am Ende des Horizonts ein Nobelpreis) und Ehrgeiz, aber insgesamt … Epidemiologie bleibt Epidemiologie. Nur einige wenige lehnen sich wirklich weit aus dem Fenster und schnuppern an ideologischen Gerüchen. Wie etwa ein Interview im St.Galler Tagblatt zeigt.
Frage: Was meinen Sie zu folgenden Aussagen über Corona?
1. Es gibt Studien, die zeigen, dass Schulschliessungen keine effiziente Massnahme gegen die Verbreitung des Coronavirus sind.
2. Ökonomen sagen uns, dass der Aufwand, den wir jetzt treiben, für ein Jahr Lebensverlängerung in der Grössenordnung von 10 Millionen Franken ist.
3. Das Virus ist für die meisten harmlos.
4. Es gibt genügend indirekte Hinweise, dass wir nach einer Ansteckung immun sind.
5. Wer nicht an eine Immunantwort glaubt, kann sich auch keine Hoffnung auf eine baldige Impfung machen.
6. Eine Studie in New York zeigte schon, dass 20 Prozent der Bevölkerung immun sind.
7. die Mehrzahl der Senioren macht die Krankheit ja ohne Symptome durch und wird immun. Wir dürfen Personen mit einem höheren Risiko die Entscheidung über ihr eigenes Leben nicht wegnehmen.
8. Ich sehe eine dramatische Trennung zwischen politischen und wissenschaftlichen Fachgremien.
OK, vielleicht sind Sie ja mit all dem einverstanden, wie viele andere auch. Man kann allerdings mit gutem Grund argumentieren, dass genau das eine Anhäufung von Meinungen darstellt.
Wohlan, wir liefern dafür ein paar Argumente, der Reihe nach:
1. Schulschliessungen keine effiziente Massnahme? Es gibt Studien, die das Gegenteil zeigen.
2. 10 Millionen Franken für ein jahr Lebensverlängerung? Man hätte, wenn nichts unternommen worden wäre, potentiell 20'000 Totegegeben (das dürfte eher untertrieben sein). Sie hätten ohne Corona im Durchschnitt 10 Jahre länger gelebt (auch das dürfte knapp gerechnet sein, wenn man die theoretische Lebenserwartung der Verstorbenen zugrunde legt: sie liegt beispielsweise für 65-Jährige bei 20 Jahren! Gerechnet zu je Fr. 100'000.-/Lebensjahr (das ist der vom BG akzeptierte Wert im Jahr 2010; heute dürfte er um einiges höher sein) ist die Rechnung einfach: man erhält ungefähr eine 2 mit 10 Nullen: 20 Milliarden. Soviel (oder eher das Doppelte) dürfen uns die Massnahmen gegen Corona also kosten, wenn wir den Wert eines gewonnenen Lebensjahres bei bescheidenen Fr. 100‘000.- belassen.
3. Das Virus ist harmlos? Nicht für die rund 40 Prozent der Bevölkerung im Alter von 65+ und jenen mit Vorerkrankungen – sie machen zusammen mehr als ein Drittel der Bevölkerung aus.
4. Nach einer Ansteckung immun? Da sind sich kompetente Virologen Garr nicht so sicher.
5. Ohne Immunantwort keine Hoffnung auf eine Impfung? Doch, die Hoffnung gibt's: Die Grippeimpfung hält auch nicht lange an, sie muss einfach jedes Jahr wiederholt werden. Vielleicht muss man die Impfung gegen das Coronavirus auch alle Jahre wiederholen – das wäre nicht das Problem.
6. In New York 20 Prozent der Bevölkerung immun? Ungefähr so hat der Schwede Tegnell «bewiesen», dass auf einen positiv Getesteten 999 unerkannt Immune kommen. Dumm gelaufen, er hat sich leider ein bisschen verrechnet. Aber egal, wichtiger ist: glaube nie einer einzigen Studie und keinen unvalidierten Antigen-Tests!
7. Personen mit Risiko die Entscheidung über nicht wegnehmen? Genau! Wir sollten den Alten die Entscheidung nicht abnehmen wie etwa in Schweden. Oder hat jemand die vielen meist nicht aufs Coronavirus getesteten, aber vermutlich an CoVid-19 verstorbenen Pensionäre in den schwedischen Altenheimen je gefragt, ob sie bereit sind, sich für das Projekt Herdenimmunität zu opfern?
8. Dramatische Trennung zwischen Politik und Wissenschaft? Richtig! Man darf in diesem Interview mit Fug und Recht von einer dramatischen Trennung zwischen politischem (oder ideologischem) und wissenschaftlichem Herangehen ans Problem SARS-CoV-2 sprechen.
Der Interviewte (im St.Galler Tagblatt), der mit solchen Aussagen über Corona brillierte, ist übrigens Pietro Vernazza, Chefarzt Klinik für Infektiologie, Kantonsspital St.Gallen. Erstaunlich – gelinde gesagt.
Richard Altorfer
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