Manchmal staunt man. Sehr sogar. Nicht über abstruse Meinungen an sich, aber darüber, von was für Leuten in was für Positionen und an welcher Stelle absurde Meinungen verbreitet werden. Werden dürfen, ohne Konsequenzen. Jedenfalls ohne bekannte Konsequenzen.
Nein, die Rede ist nicht von Klaus Stöhlker, der uns in einem Interview mit Herrn Hässig auf «Inside Paradeplatz» erklärt, dass SARS-CoV-2, das Virus also, das CoVid-19 (die Krankheit, die oft mit einer Lungenentzündung einher geht, die Älteren umbringt und die Jüngeren mit schweren Lungenbehinderungen u.a. zurücklässt) auslöst, nichts weiter sei als eine «wütende Grippe» ( https://insideparadeplatz.ch/videos/klar-ist-es-ist-eine-grippe-eine-wuetende-grippe/?fbclid=IwAR0KXcW1mfKu0rB7qTIEF_5eeOWWeKrpB-MWNxFeh_ivHPmGTRBzlV0NcYY ). Der streitbare alte Mann, der wegen seiner kritischen Anmerkungen zum Welt- und vor allem zum Schweizergeschehen einmal durchaus geschätzt wurde, meint zu Corona, die Krankheit treffe eh nur Arme und Alte, vor allem in schlechten Gesundheitssystemen. Die Medien hätten Alarm-Journalismus betrieben und dienten bloss dem Bundesrat zu. Ich gebe zu, ich habe das Video nur bis zu Minute 3.43 gesehen und gehört – das hat gereicht. Andere haben das Interview, das man – nur schon zum Eigenschutz des alten Mannes – nie hätte ausstrahlen dürfen, munter kommentiert. Einer der nettesten Kommentare: «Provokative Thesen, die skurril in der Landschaft stehen können, beflügeln den Geist, der zum eigenen Denken und Nachdenken anregen soll.» Neben Ärger über «soviel Borniertheit» gab’s allerdings auch Zustimmung. Eigentlich unwichtig, schliesslich wurde der Beitrag zehntausende Male angeklickt und Hunderte Male kommentiert und hat somit seinen einzigen Zweck: Klicks generieren, erreicht.
Aber zurück zum Staunen über Personen, Meinungen und Orte, an denen die veröffentlicht werden. Die Rede ist von Stefan Schmid, seines Zeichens Chefredaktor des St.Galler Tagblatts. Herr Schmid macht sich in einem Kommentar Sorgen um die Finanzen des Bundes, um die Schulden, die ihm aus dem Umgang mit der Corona-Krise erwachsen, und Herr Schmid sucht nach Möglichkeiten, Schuldige ausfindig zu machen, die am Ende für den angerichteten Schaden aufkommen müssten. Herr Schmid hat, wen würde es überraschen, die «Schuldigen» rasch gefunden: es sind «die Alten». Hier der Link zum Kommentar: https://www.tagblatt.ch/meinung/senioren-sollen-wegen-corona-lockdown-ein-solidaritaetsprozent-beisteuern-ld.1210335 . Der Titel: «Senioren sollen wegen Corona-Lockdown ein Solidaritätsprozent beisteuern».
Sie denken, das sei Satire? Na ja, hoffen darf man, nur, der Text kommt nicht als solche daher. Was nicht mit Sicherheit dagegen spricht, aber eben, man ahnt doch eher: Der Mann meint das Ernst! Schuld ist, der Logik des Chefredaktors folgend, wer alt ist oder und eine Vorerkrankung hat. So wie Behinderte im Rollstuhl schuld daran sind, dass die Gesellschaft überall für teures Geld Rampen bauen muss. Bei Corona verteilt sich die Schuld allerdings etwas breiter, da selbstverschuldetes Alter und selbstverschuldete Vorerkrankungen gegen 40 Prozent der Schweizer treffen: alle über 65, alle mit Hypertonie, alle Raucher, alle Patienten mit COPD (chronischer Lungenkrankheit), vermutlich auch alle Übergewichtigen, alle Krebs- und Rheumapatienten unter Therapie und noch ein paar weitere chronisch Kranke. Sie alle, die schuldig sind am Lockdown, speziell an den Kosten, die er verursacht, sollten zur Kasse gebeten werden. Meint Herr Schmid. Oder meint er doch nur die (selbstverschuldet) Alten?
Zwischenbemerkung: Der Gerechtigkeit halber muss man einräumen, dass Herr Schmid den zur Kasse zu Bittenden wenigstens keine moralische Schuld zuweist. Bemerkenswert. Andere haben diesbezüglich weniger Hemmungen. Schuld sind, wenn man einigen politisch grün Gefärbten weiblichen Geschlechts folgt, nämlich ganz eindeutig «alte weisse Männer». Soweit ideologisiert Herr Schmid die Schuldhaftigkeit denn doch nicht. Wobei die inhaltliche wie die ideologische Schnittmenge doch ganz erheblich sein dürfte. Es bedeutet nämlich, dass – selbst unter Berücksichtigung entlastender Faktoren wie unverschuldetem Kranksein – eine Gruppe auf jeden Fall im Fokus der Schuld zuweisenden Moralisten bleibt: Männer über 65.
Ehrlicherweise muss man sagen, dass sich auch viele Junge Sorgen machen um Oma und Opa und um die Eltern – ich hoffe, es ist die Mehrheit. Aber was ich von sogar klugen Leuten so lese, vor allem zwischen den Zeilen, zu den wirtschaftlichen Aussichten, zur scheinbar übertriebenen Vorhalteleistung in den Spitälern, zu den psychologischen Auswirkungen, zum Elend der Eltern, die auf einmal Kinder entdecken im Haushalt, von denen, so hat man den Eindruck, sie vorher gar nichts wussten, dann ist man versucht zu ahnen: gäbe es einen Weg, die Krise abzukürzen, indem man die Alten ein klein wenig früher sterben liesse, als es das Schicksal vorgesehen hat, würden ziemlich viele dafür plädieren, dass die Alten sich opfern zugunsten der Jungen und des Fortbestands einer prosperierenden, ungestört ihren Wohlstand feiernden und ihre Freiheiten massiv überschätzenden Gesellschaft.
Dahinter steckt ein erschreckender Egoismus; man kann ihn auch Altersrassismus nennen. Nicht dass das gross überrascht; er war schon immer da, einfach gut kaschiert. Wir Alten waren bisher die guten Kunden, die Arbeitgeber, auch die Eltern, und daher einigermassen unantastbar. Man hat uns (nicht mehr ganz gesunde Junge, vor allem aber kranke Ältere) mit den grossartigsten Segnungen der Medizin, die es je gab, über die Runden gebracht, lässt uns immer länger leben. Nicht etwa als Gesunde, sondern als chronisch krank Weiterlebende (was, nur so nebenbei, schliesslich als Einziges eine optimale «Kundenbindung» garantiert) – und das meist mit ordentlicher Lebensqualität.
Aber in der jetzigen Situation? In der Krise? Man gewinnt den Eindruck, zumindest eine Minderheit beginnt abzuwägen: Sind uns die Alten mehr wert als künftige Kunden (vor allem des Gesundheitswesens und der Tourismusindustrie) oder als aktuell Tote, die uns (Junge, Eingesperrte, am gewohnten Leben Gehinderte) nicht mehr nerven?
Na ja, zum Glück für uns (Alte) lässt sich die Nutzen- und Risiko-Diskriminierung nicht so eng und allein am Alter festmachen und einige Anständige (ich bin sogar sicher: die überwiegende Mehrzahl) halten durchaus auch noch mit ethischen Argumenten gegen reine Kosten-Nutzen-Überlegungen. Hoffen wir, dass das so bleibt. Dann lassen sich die einzelnen Übelwollenden wohl aushalten. Nur, wir sollten die im Unter- oder Hintergrund lauernde Geringschätzung der Alten nicht ganz aus den Augen verlieren.
Richard Altorfer
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